Dafür, dass es im Thüringer Landtag keine klaren politischen Mehrheiten gibt, lief es auf der konstituierenden Sitzung erstaunlich glatt. Um kurz nach halb zwölf nahm Birgit Keller, die neu gewählte Präsidentin des Parlaments, auf ihrem leicht erhöhten Sitz im Plenarsaal Platz. Kurz zuvor war die Linke-Politikerin mit 52 Ja-Stimmen bei zehn Enthaltungen und 28 Nein-Stimmen in das Amt gewählt worden.
Die Wahl der Landtagspräsidentin und ihrer Stellvertreter war bis vor wenigen Jahren noch auch in Thüringen eine eher langweilige Angelegenheit. Die großen Parteien machten die Sache vorher im stillen Kämmerlein aus, Überraschungen gab es selten. Doch wenn Keller, die von 2014 bis 2019 Landwirtschaftsministerin im Freistaat war, jetzt von ihrer Empore in den Thüringer Landtag blickt, wird sofort deutlich, wie sehr sich die Lage verändert hat.
Im 7. Landtag sitzen nun mit Linken, AfD, CDU, SPD, Grünen und FDP insgesamt sechs Fraktionen. Kein herkömmliches politisches Lager verfügt über eine Dominanz. Die Linke wurde am 27. Oktober zwar zur stärksten Partei und damit auch zur stärksten Fraktion. Doch zugleich hat die rot-rot-grüne Koalition von Ministerpräsident Bodo Ramelow vor 30 Tagen ihre Mehrheit verloren.
Dass Keller, die die erste Hälfte ihres Lebens in der DDR verbracht hat, gleich im ersten Wahlgang zur Präsidentin des Landtags gewählt wird, war keinesfalls selbstverständlich. Denn Keller, früher SED-Mitglied, war auch auf Stimmen angewiesen, die nicht zum rot-rot-grünen Lager gehören. „Ich werde versuchen, das Beste zu geben, und sehe mich als Präsidentin des ganzen Landtags“, erklärte Keller nach der Wahl – da applaudierten sogar die Abgeordneten der AfD.
Durchregieren ist jetzt unmöglich
An der volatilen Grundsituation wird sich in den nächsten Monaten und Jahren in Erfurt nichts ändern. Durchregieren kann im Thüringer Parlament niemand mehr. Die politische Macht verlagert sich von der Regierungsbank in den Plenarsaal. Eine völlig neue Situation: Auch bei kleineren Problemen sind künftig interfraktionelle Absprachen nötig. Nach dem Motto: Hilfst du mir, helf’ ich dir. So wurde auf der konstituierenden Sitzung des Landtags der Bürgerbeauftragte, den die CDU aufgestellt hatte, im Amt bestätigt: Kurt Herzberg, ein Vertrauter des ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Dieter Althaus, bekam 71 von 90 Stimmen.
Die Wahlgänge von Keller und Herzberg galten auch als leiser Probelauf für die Wahl des Ministerpräsidenten: Ramelow bleibt fürs Erste geschäftsführend im Amt. Im Februar will er sich erneut zur Wahl stellen und eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung bilden. Ohne gewisse Verabredungen mit CDU, FDP – und vielleicht sogar der AfD – wird das kaum gelingen.
Eine absolute Mehrheit wird Ramelow zwar kaum erreichen. Aber die Thüringer Landesverfassung erlaubt, dass ein Ministerpräsident im dritten Wahlgang auch mit relativer Mehrheit gewählt werden darf. Nachdem CDU-Landeschef Mike Mohring am Wochenende erklärt hatte, dass er gegen Ramelow nicht kandidieren will, und Vertreter der Unionsfraktion zugleich deeskalierende Signale gesendet hatten, scheint die Bildung einer Minderheitsregierung tatsächlich möglich.
Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass so ein Modell dauerhaft versucht wird. Ähnlich komplizierte politische Verhältnisse gab es zuletzt vor zehn Jahren in Hessen. Damals entstand nach einer Landtagswahl ein Patt zwischen dem schwarz-gelben und dem rot-grünen Lager. Der Versuch der SPD-Landeschefin Andrea Ypsilanti, den damals amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) mithilfe der Linken zu stürzen, schlug fehl. Es kam zur Neuwahl.
Nach einer Neuwahl aber sieht es in Thüringen trotz der komplizierten Lage nicht aus. Trotzdem war lange unklar, wie es weitergehen sollte. Die nebulöse Situation war vor allem entstanden, weil CDU-Fraktionschef Mohring mehrfach die Taktik geändert hatte. Zunächst brachte er eine Kooperation von CDU und Linkspartei ins Spiel, dann wurde spekuliert, ob er sich am Ende doch mithilfe von FDP und AfD zum neuen Ministerpräsidenten wählen lassen würde.
Ein von Mohring wochenlang immer wieder gefordertes Viererbündnis aus CDU, SPD, Grünen und FDP entpuppte sich als reine Wunschvorstellung. Dass die CDU bei der Landtagswahl der große Verlierer in Thüringen war und Mohring deshalb keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung erheben konnte, wurde von ihm erstaunlicherweise erst sehr spät eingeräumt. Auch Thüringer Christdemokraten glauben, dass Mohring mit seinen aktionistischen Vorschlägen von dem Debakel ablenken wollte. Als er am vergangenen Wochenende bei einer Tagung der Jungen Union auftrat, war der Beifall jedenfalls allenfalls bemüht, über weite Strecken blieb er ganz aus.
Das politische Mäandern hat Mohring auch in der eigenen Partei und in der Fraktion erheblich geschadet. Die Rolle der geschwächten Union in diesem Thüringer Minderheitsspiel bleibt unklar.
Eine gewisse Orientierung kam nun aus der zweiten Reihe, von Mohrings langjährigem Pressesprecher Karl-Eckhard Hahn. Der CDU-Mann setzte vor Kurzem einen erstaunlichen Tweet ab: „Eine CDU-Thüringen, die sich ihrer selbst gewiss ist und die Linke Thüringen dazu bewegen könnte, ein paar ideologische Weichenstellungen zu korrigieren, müsste dies nicht fürchten“, hieß es da. Und weiter: „SPD und Grüne in Thüringen könnten sich in der Opposition erholen.“ Hahn fügte hinzu, dass sei „ausdrücklich“ nur seine „persönliche Meinung“.
Eine Koalition von CDU und Linken hätte im Landtag zwar eine stabile Mehrheit. Aber politisch wird sie nicht zustande kommen. Dass die CDU in Thüringen aber künftig einer linken Minderheitsregierung auch Forderungen abringen kann und „ideologische Weichenstellungen“ etwa bei Themen der inneren Sicherheit korrigieren könnte, ist nicht abwegig. Denn im Thüringer Parlament gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder blockieren sich alle gegenseitig. Oder es gilt die Devise: Leben und leben lassen. Auf der ersten Sitzung der 7. Legislaturperiode wurde in Erfurt Letzteres versucht.