Panorama

Antisemitismus in Italien Auschwitz-Überlebende wird massiv bedroht

Liliana Segre ist als Holocaust-Zeitzeugin an Schulen und Universitäten aktiv.

Liliana Segre ist als Holocaust-Zeitzeugin an Schulen und Universitäten aktiv.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Mailänderin Liliana Segre hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Jetzt ist die 89-Jährige wieder in Gefahr. Seit Monaten bekommt sie Hassmails und Drohungen und steht nun unter Polizeischutz. In Italien häufen sich antisemitische Vorfälle.

Liliana Segre ist eine zierliche 89-jährige Dame mit schneeweißem Haar und einer großen, rahmenlosen Brille. Ihre Augen blicken wachsam um sich. Es sind die Augen eines Menschen, der die Hölle gesehen und erlebt hat und jetzt wieder auf der Hut sein muss. Segre ist eine Auschwitz-Überlebende, eine der letzten in Italien. Sie war 13 Jahre alt, als sie im Januar 1944 zusammen mit ihrem Vater Alberto Segre von Gleis 21 des Mailänder Bahnhofs nach Auschwitz deportiert wurde. Sie überlebte, ihr Vater nicht.

An Gleis 21 des Mailänder Hauptbahnhofs erinnert die "Mauer der Namen" an die Juden, die von hier in die Vernichtungslager transportiert wurde.

An Gleis 21 des Mailänder Hauptbahnhofs erinnert die "Mauer der Namen" an die Juden, die von hier in die Vernichtungslager transportiert wurde.

(Foto: picture alliance / dpa)

Und genau vor diesem Gleis, auf dem jetzt das Shoah-Denkmal steht, haben sich Montagabend trotz des Regens 5000 Menschen versammelt, um Segre ihre Solidarität zu bekunden. In einer Zeitungsreportage war Tage zuvor darüber berichtet worden, dass sie seit Monaten täglich Hunderte von Hasspostings und Drohungen bekommt und immer wieder antisemitische Schriften vor ihrer Mailänder Wohnung erscheinen. Die Behörden beschlossen daraufhin, sie unter Polizeischutz zu stellen.

Lange hat es gedauert, bis Segre über das KZ sprechen konnte. "Genauer gesagt erst, als ich Großmutter wurde", sagte sie einst in einem Interview. Seitdem reist sie unermüdlich durch Italien, erzählt vor allem den jüngeren Generationen von Auschwitz. Für diesen Dienst an der Nation ernannte sie Staatsoberhaupt Sergio Mattarella voriges Jahr zur Senatorin auf Lebenszeit. Und so ist sie heute für die einen eine Symbolfigur und für die anderen Zielscheibe ihres Hasses.

Politiker schüren Antisemitismus

Dass jemand, der den KZ-Horror überlebt hat, wieder angepöbelt wird und um sein Leben fürchten muss, ist für die Menschen, die sich vor dem Shoah-Mahnmal versammelt haben, unbegreiflich - eine nationale Schande. "Ja, nationale Schande ist die richtige Bezeichnung", meint auch der Historiker Umberto Gentiloni gegenüber n-tv.de. "30 Jahre nach dem Mauerfall ist uns die Geschichte abhandengekommen. Die junge Generation reist heute frei, kreuz und quer durch Europa, weiß aber herzlich wenig über die Vergangenheit". Die sei in eine Schublade gesteckt worden, meint er. Für so manchen sei für die Vergangenheit keine Zeit, denn die Welt drehe sich zu schnell.

In Halle gab es gerade einen versuchten Anschlag auf eine Synagoge und auch in Italien häufen sich antisemitische Vorfälle. Beide Staaten tragen das schwere Erbe einer faschistischen beziehungsweise nationalsozialistischen fremden- und judenfeindlichen Diktatur, in beiden Ländern kamen Rassengesetze zum Einsatz. "Stimmt, aber darin die Ursachen für den jetzigen Antisemitismus zu suchen, finde ich eine eher fragwürdige Vereinfachung", sagt Gentiloni. Immerhin wurden unlängst auch auf einem jüdischen Friedhof in Dänemark Gräber geschändet und in Frankreich sieht sich die jüdische Gemeinschaft immer mehr in Gefahr. Um den in ganz Europa wiedererstarkenden Antisemitismus zu begreifen, müsse man vielmehr auf die politischen Entwicklungen blicken, meint der Historiker. Auf Parteien wie die Lega in Italien, die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich, das Rassemblement National in Frankreich, um nur einige zu nennen. "Also auf die Angstmacher, die die Migranten und antisemitische Parolen nutzen, um sich in einer verunsicherten Gesellschaft die Gefolgschaft zu sichern."

Zehn Prozent bezeichnen sich als Antisemiten

In einem Kaffeehaus auf der sizilianischen Insel Pantelleria sagt ein Gast wie selbstverständlich: "Es geht immer nur um die sechs Millionen Juden - und was ist mit den anderen, die auch ermordet wurden?" Eine Meinung, die auch der neue Lega-Bürgermeister von Predappio, der Geburtsstadt des faschistischen Diktators Benito Mussolini, teilt. Dieser weigerte sich vorige Woche, einem Schüler, der an der alljährlichen Gedenkfahrt nach Auschwitz teilnehmen wollte, die vorgesehene finanzielle Unterstützung seitens der Gemeinde zu gewähren. Seine Begründung: Es könne nicht immer nur um diesen Teil der Geschichte gehen. Eine Darstellung, die mittlerweile immer mehr Italiener teilen. Laut einer Umfrage bezeichnen sich heute 10 Prozent der Italiener ohne Migrationshintergrund als überzeugte und 30 Prozent als ambivalente Antisemiten, will heißen, je nach Lage und Umstand.

Für den Historiker und Vorsitzenden des Hebräischen Dokumentationsarchivs in Mailand, Gadi Luzzato Voghera, hat der wiederentfachte Antisemitismus mit der Verunsicherung zu tun, die der rasante gesellschaftliche Wandel in den letzten 25 Jahre mit sich gebracht hat, und die Teile der Politik zu ihren Gunsten nutzen. "Ich bin 1963 geboren, also nicht in der Steinzeit, und in meiner Jugend wäre es undenkbar gewesen, dass sich Politiker gewisser Ausdrücke bedienen", hebt er im Gespräch mit n-tv.de hervor. "Hier nur ein Beispiel: Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Rechten von Fratelli d'Italia, hat George Soros einen Wucherer genannt. Das ist eine antisemitische Brandmarkung, die noch aus dem Mittelalter stammt und heute aktualisiert wird." Oft schwingt in einer solchen Behauptung auch mit, dass Soros nicht nur ein geldgieriger Jude sei, sondern auch der Strippenzieher eines "Umvolkungsplans", der Migranten nach Europa schleuse. Hinzu kommt, dass in Italien bis heute noch ein tief verwurzelter antijüdischer Katholizismus eine Rolle spielt.

Der Fall Segre sowie das Attentat in Halle sind Warnsignale eines Antisemitismus, der schon seit Jahren unterschätzt wird, den man aber jetzt nicht mehr übergehen dürfe, fügt Luzzato Voghera hinzu. Er sieht in den jetzigen Solidaritätskundgebungen immerhin ein ermutigendes Signal. Mag sein - nur bei 5000 Mailändern kann es nicht bleiben. Denn wenn ein Politiker wie der rechtsnationale Lega-Chef Matteo Salvini Segre seine Solidarität ausspricht und gleich danach unverfroren hinzufügt, er selber bekäme auch tagtäglich Hasspostings, müsste eigentlich ganz Italien auf die Straße gehen.

Quelle: ntv.de

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