Vor 30 Jahren schien die Sache sonnenklar: Der Sozialismus wurde – in der DDR wie im ganzen Ostblock – hinweggefegt. Die Menschen im Osten wollten so leben wie im Westen: in Wohlstand, ohne Gängelung, mit Meinungs- und Reisefreiheit. Das sozialistische Experiment war nach gut 70 Jahren und Millionen von Opfern weltweit krachend gescheitert, der Kalte Krieg war entschieden. Das Ende der Geschichte schien nah.
Heute, 30 Jahre später, ist die Welt in Unordnung geraten. Viele alte Gewissheiten gelten nicht mehr. Die DDR wird im Rückblick inzwischen oft viel milder gezeichnet, als es noch vor Jahren der Fall war. Selbst über das Wort Unrechtsstaat, das die DDR ohne Zweifel war, wird gestritten. Und es scheint, als ob eine alte Utopie, die ja nie völlig verschwunden war, zurückkehrt: die von einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Arm und Reich, in der die Unternehmen der Gesellschaft (also dem Staat) gehören und zum Wohle aller (und neuerdings auch umwelt- und klimaschonend) produzieren.
Es ist in letzter Zeit viel über eine Rechtsdrift der Gesellschaft debattiert worden. Das stimmt insofern, als dass inzwischen eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei in sämtlichen Parlamenten sitzt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn zum anderen ist die CDU, früher ein Hort der Konservatismus, weit nach links gerückt. Die SPD bewegt sich immer weiter auf die Linke zu, um ein künftiges Bündnis vorzubereiten. Und die Grünen profitieren von dem gerade sehr angesagten Thema Klimaschutz.
In diesem links-grünen Zeitgeist werden Stimmen laut, die noch vor 15, 20 Jahren auf entschiedenen Widerspruch gestoßen wären. Während – zu Recht – alle Warnlampen aufleuchten, wenn die AfD von einem Systemwechsel schwadroniert, war und ist es auch in linken Kreisen schick, das System der Bundesrepublik infrage zu stellen. Bestes Beispiel dafür sind die Sozialismus-Thesen von Juso-Chef Kevin Kühnert. Seine Vergesellschaftungs-Ideen stießen zwar bei Union, FDP und AfD auf Kritik, doch große Teile der SPD (und die Linke sowieso) äußerten sich zustimmend. Auch das Echo in den Medien war zum Teil sehr wohlwollend.
Nun wird niemand, der mit offenen Augen die Welt betrachtet, meinen, dass der Kapitalismus per se die Menschen glücklich macht. Er muss gezähmt werden – sowohl sozial als auch ökologisch. Über das Wie, das richtige Maß an Umverteilung und Umweltschutz, wurde und wird gestritten. Doch Kühnert und vielen anderen geht es nicht um mehr oder weniger Umverteilung, sie wollen ein anderes System. Was sie dabei übersehen (wollen): Der Sozialismus auf deutschem Boden ist mit den gleichen Idealen angetreten. Mauer und Stasi waren nicht sein erklärtes Ziel, sondern notwendige Folge eines Systems, das – mit Zwang – den besseren Menschen erschaffen wollte.
Auf die Idee, mit einem neuen System alle Probleme zu lösen, sind inzwischen schon viele aufgesprungen. Sexismus, Rassismus, globale Ungerechtigkeit, Klimawandel – alles könnte auf einen Schlag vorbei sein, so die naive wie auch populistische Vorstellung. In Umfragen gibt es einen erschreckend hohen Prozentsatz an Menschen, die die Demokratie nicht für die beste Regierungsform halten, vor allem im Osten. Luisa Neubauer von Fridays for Future stellt angesichts der Klimakrise die Marktwirtschaft infrage, Extinction-Rebellion-Mitbegründer Roger Hallam hält aus gleichem Grund die Demokratie für „irrelevant“.
Doch wer so redet, sollte auch sagen, welches System denn das bessere wäre. Bis heute gibt es kein Modell, das sich zwischen der Marktwirtschaft einerseits und der Planwirtschaft andererseits ansiedeln lässt. Ökonomische Gesetzmäßigkeiten lassen sich nicht aushebeln. Und weder Venezuela noch Nordkorea oder China sind dafür bekannt, ihren Bewohnern Freiheit und Wohlstand zu sichern und die Umwelt zu schützen.
Es gibt viele gute Gründe, sich für eine bessere Welt zu engagieren. Das westliche Modell mag unvollkommen sein, doch ein besseres gibt es nicht in dieser unvollkommenen Welt. Es ist kein starres System, sondern hat sich im Laufe vieler Jahrzehnte immer wieder selbst reformiert. Es lädt jeden ein, es besser zu machen. Deshalb ist es kaum verständlich, dass dieses wohlhabende und freie Deutschland mit sich selbst so hadert.
Nein, eine Neuauflage von Mauer und Stacheldraht droht wahrscheinlich nicht in absehbarer Zeit. Doch dass Demokratie und soziale Marktwirtschaft so an Ansehen leiden, muss Anlass zur Sorge geben. 30 Jahre nach dem Mauerfall sollte Deutschland die Lehren aus der DDR nicht schon vergessen haben.