Der Sound der E-Mail an die Grünenpolitiker Cem Özdemir und Claudia Roth ist eindeutig: "Es kann jeden von Ihnen treffen." Die beiden, so wurde ihnen auf diese Weise in der vergangenen Woche mitgeteilt, seien auf eine Todesliste gesetzt worden. Die Zuschrift endet mit den zynischen Worten: "Mit freundlichen Grüßen, Atomwaffen Division Deutschland."

Der Bundestagsabgeordnete Özdemir und die Bundestagsvizepräsidentin Roth sind nur die letzten Politiker in einer langen Reihe von bedrohten Mandatsträgern. Auch Aktivisten und Redaktionen sind betroffen, zum Beispiel durch zahllose Drohschreiben eines Absenders, der mit "Staatsstreichorchester" zeichnet. Und die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız erhielt ein Fax mit der Unterschrift "NSU 2.0", in dem die Ermordung ihrer Tochter angedroht wurde.

Generalbundesanwalt Peter Frank schätzt die Gefahr hoch ein, die von den Absendern ausgehen kann. Kürzlich sagte er der ZEIT (9. Oktober 2019): "Wenn Personen, die bereit sind, Verantwortung in unserer Demokratie zu übernehmen, mit dem Tod bedroht werden, ist das brandgefährlich." 

Seit den Anschlägen auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und den Bürgermeister von Altena Andreas Hollstein, seit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem Attentat auf die Synagoge in Halle ist allen bewusst, dass es nicht immer bei Drohungen bleibt.

Bislang lediglich zwei Festnahmen

Ehrenamtliche Lokalpolitiker stehen dabei ebenso im Visier wie Bundestagsabgeordnete. Seit Anfang 2016 zählt das Bundeskriminalamt (BKA) politisch motivierte Drohungen und Angriffe auf Amts- und Mandatsträger, 2018 waren es 1.256 Straftaten. Im Januar 2019 wurde die Statistik verfeinert, um Sachbeschädigungen an Büros von Angriffen auf Personen zu trennen. In den ersten drei Monaten des Jahres zählte die Polizei 372 Taten, die sich gegen Politiker richteten. Etwa die Hälfte betraf AfD-Mitglieder.  

Doch so sehr Verfassungsschutz und Polizei um die Gefahr wissen, so wenig können sie bislang darüber sagen, wer hinter den Todesdrohungen steckt. Am nächsten sind sie den Tätern bislang im Fall von Rechtsanwältin Başay-Yıldız gekommen: Das Drohfax wurde aus einer Polizeiwache verschickt, mehrere Beamte werden verdächtigt, sich beteiligt zu haben, ein Polizist wurde kurzfristig festgenommen. Ob es zu einem Prozess kommt, ist allerdings offen.

Noch weniger wissen Polizei und Verfassungsschutz über jene, die ihre Mordaufrufe und Bombendrohungen digital verbreiten. Im April wurde zwar ein Mann festgenommen, der seine Drohungen wohl mit "Nationalsozialistische Offensive" unterzeichnet hatte. Doch wer hinter den vielen Mails des "Staatsstreichorchesters" steckt, konnten die Behörden noch nicht aufklären. Der Weg der Mails wird so geschickt verschleiert, dass er sich bislang offenbar nicht zurückverfolgen ließ. 

So ist es auch bei den Drohmails an Özdemir und Roth. Sie werden allerdings ernst genommen, weil die "Atomwaffen Division" (AWD) eine gewaltbereite Neonazigruppe aus den Vereinigten Staaten ist. Ihren Mitgliedern werden dort fünf Morde zur Last gelegt — und vor einem Jahr soll sich ein deutscher Ableger gegründet haben. Zumindest tauchte im Sommer 2018 ein entsprechendes Video auf. Darin ließ sich ein Deutscher mit technisch verzerrter Stimme über den Nationalsozialismus aus und sprach von "gewetzten Messern". Zu sehen ist eine vermummte Gestalt, die vor der Wewelsburg bei Paderborn eine Fahne der AWD hochhält. Kein zufällig gewählter Ort, die Burg galt der SS als Kultstätte.