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Ferda Ataman

Wegbereiter für den Rechtsruck Wo kommen nur all die Rassisten her?

Viele glauben, dass Deutschland seit 2015 einen Rechtsruck erlebe, aber das ist Quatsch. Den Grundstein für den Erfolg der AfD haben andere gelegt. Wir haben das Gelaber vom Aussterben der Deutschen viel zu lange zugelassen.
Islamfeindliche Kundgebung in Dresden, Juli 2019

Islamfeindliche Kundgebung in Dresden, Juli 2019

Foto:

Sean Gallup/ Getty Images

Menschen haben ja unterschiedliche Zeitrechnungen. Wir leben nicht nur im Jahr 2019 nach Christus, im Jahr 70 der Bundesrepublik oder 30 nach Mauerfall. Wir, die Menschen mit Kanakenhintergrund, wir zählen auch das Jahr zehn nach Sarrazin, kurz n. S.

Vor zehn Jahren gab Thilo Sarrazin, ehemaliger SPD-Finanzsenator in Berlin, der Kulturzeitschrift "Lettre International" ein Interview mit dem Titel "Klasse statt Masse" und plädierte, so kann man das lesen, unterm Strich für eine Einwanderungspolitik auf erbbiologischer Grundlage. Er machte so krude Aussagen  wie: "70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin" lebten vom Staat und produzierten "ständig neue kleine Kopftuchmädchen". Und Türken würden Deutschland per Geburtenrate "erobern". Da seien ihm "osteuropäische Juden mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung" lieber.

Nach der Veröffentlichung gab es eine wochenlange, bundesweite Debatte darüber. Das Absurde daran: Man war sich - trotz genetisch bedingter Intelligenzzuschreibung und kriegerischer Überfremdungsrhetorik - nicht einig, ob man das schon als "rassistisch" bezeichnen kann. Noch mal: Man war sich nicht einig, ob das Rassismus ist . In Deutschland. 2009.

Wir angeblich Schlechtintegrierten mussten fassungslos mit ansehen, wie manche das als berechtigte "Polemik" abtaten. Wir lasen nüchterne Faktenchecks  zu den steilen Thesen und erfuhren die genaue Geburtenrate des Einwandererstammes der Türken. Ich arbeitete beim "Tagesspiegel" und las in meiner Zeitung, Sarrazin habe "mindestens in der Tendenz recht" , was die Geburten angeht.

Die Debatte markiert eine Zäsur, weil sich damals zum ersten Mal zeigte, dass das Gerede von Überfremdung  und "Islamisierung" keine rote Linie überschritt. Sarrazin blieb damals ein gern gesehener Gast in Talkshows.

2010, im Jahre eins n. S., erschien das Buch "Deutschland schafft sich ab". Es trug die Überfremdungsthese mal eben in die bürgerliche Mitte und machte Sarrazin zum Millionär. Und alles kreiste um die Frage: Wie viele "von denen" verträgt unser Land.

Von den Talkshows wanderte der Rassismus auf die Straße: 2013 traten erst die "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa), 2014 die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands" (Pegida) auf den Plan. Obwohl die Beziehungen von Pegida ins rechtsextreme Milieu bald offenkundig waren, war der Mythos vom "besorgten Bürger" geboren. Zeitgleich zog die AfD ins Parlament: Im Jahr fünf nach Sarrazin holte sie bereits zehn bis zwölf Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen.

Ich zähle das alles auf, damit klar wird: Uns, die Mitbürger mit Kanakenkontext, haben die Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland 2019 nicht überrascht oder schockiert. Wir stehen unter Dauerschock. Seit zehn Jahren.

Rassismus ist nicht unfair, es verstößt gegen geltendes Recht

Eigentlich sollte der Umgang mit Rassismus keine Ansichtssache sein, wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber der Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung und rassistischer Beleidigung ist es auch. Das Problem: Wir setzen Letzteres in Deutschland kaum durch.

Was viele nicht wissen: Es gibt eine völkerrechtlich bindende Erklärung gegen Rassismus , die Deutschland vor 50 Jahren unterzeichnet hat. Allerdings scheint die Bundesregierung diese eher als Empfehlung zu betrachten und weniger als rechtlich bindend. Das zeigte sich auch an der Causa Sarrazin:

Einige Deutschtürken erstatteten 2009 Strafanzeige gegen ihn unter anderem wegen Volksverhetzung und Beleidigung, doch die Berliner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen zügig ein. Deutschland kassierte dafür 2013 eine Rüge vom UN-Ausschuss , der die Einhaltung der Antirassismus-Konvention überwacht. Die Position des Ausschusses war eindeutig : Sarrazins Aussagen zeigten ein rassistisches Menschenbild, das nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sei. Wenn die deutsche Justiz das anders sehe, müsse Deutschland seine "Grundsätze und Verfahren" bei der Strafverfolgung von Rassismus überprüfen.

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Ataman, Ferda

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Verlag: S. FISCHER
Seitenzahl: 208
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27.04.2024 03.11 Uhr

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Bis heute merkt man davon nichts. Im Gegenteil. Noch immer verhandeln wir Rassismus eher als Meinungssache denn vor Gericht. Das ist falsch. Unsere Justiz lässt das verschwurbelte Gerede über Umvolkung zu, sogar bei Parteien, die für deutsche Parlamente kandidieren. Mit dem Effekt, dass sie als demokratisch legitimiert gelten, wenn sie genug Stimmen erhalten.

Wenn ich jetzt ratlose Gesichter sehe, die völlig perplex fragen, wo auf einmal all die Rassisten und Neonazis herkommen, werde ich wütend. Ernsthaft: Wie ignorant muss man sein, um all die Jahre nicht bemerkt zu haben, wie sich - nicht nur im Osten - die Angst vieler Deutscher vor dem Aussterben  breitgemacht hat? Oder wie weit Ressentiments gegen Muslime in die Mitte der Gesellschaft reichen?

Ein Millionen-Bestseller mit einer "vulgärdarwinistischen Gesellschaftstheorie" , Demonstrationen gegen die "Islamisierung des Abendlands", "besorgte Bürger", die "Lügenpresse" skandieren - da hätten bei Leuten wie Annegret Kramp-Karrenbauer schon die Alarmglocken läuten können.

Das Jahr zehn n. S. begann damit, dass ein Typ in der Silvesternacht im Ruhrgebiet in sein Auto steigt und Ausländer überfahren will. Wir wissen nicht, ob er geistig zurechnungsfähig war, aber wir wissen, dass das Ereignis keine große Empörungswelle ausgelöst hat. Höchste Zeit, den ideellen Unterbau für ethnische Säuberungsversuche rechtlich anzugehen.