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S.P.O.N. - Der Kritiker Träumen von "Xanadu"

Das deutsche Fernsehen, vor allem das öffentlich-rechtliche, ist eine Zumutung. Wie sehr die Sender ihr Publikum für dumm verkaufen und die gesellschaftliche Spaltung vorantreiben, zeigt sich, wenn man durch Zufall im Nachtprogramm auf eine grandiose TV-Serie aus Frankreich stößt.

Wie schlecht das deutsche Fernsehen ist, hatte ich schon wieder vergessen. Man sieht sich ja kaum noch. Und wenn doch, dann ist alles wie immer: Die "Tagesschau" simuliert Nachrichten und macht dabei parteienhöriges Staatsfernsehen. Die Privaten sind wenigstens konsequent in ihrem Unsinn. Ansonsten spielt alle Rollen Christiane Hörbiger.

Ich mache es wie alle, die ich kenne. Ich warte, bis die neue Staffel von "Mad Men" bei Amazon zu haben ist, ich ärgere mich, dass "Bored to Death" oder "Boardwalk Empire" noch nicht auf DVD erschienen sind, ich bin leider zu doof dafür, über irgendwelche russischen oder sonstigen Streams, falls das so heißt, "Mildred Pierce" auf dem Laptop zu schauen. Ob es die GEZ wirklich gibt, weiß ich nicht, Ulrich Deppendorf habe ich immerhin neulich auf der Straße gesehen, ansonsten halte ich die Fernsehsender für eine Verschwörung mit dem Ziel, die erwachsenen Menschen in diesem Land zu entmündigen.

Was für ein Schock ist es dann, so etwas zu sehen wie "Xanadu", die beste europäische Serie, die ich kenne. Seit einer Woche läuft sie auf Arte, immer samstags um, klar: 23.30 Uhr. "Xanadu" erzählt die Geschichte einer zerfallenden Familie, und dass die Serie im Pornomilieu spielt, ist nicht schlüpfrig oder spekulativ, sondern schafft eine zeitgemäße Verruchtheit, die den Brüchen in den individuellen Biografien eine größere Bedeutung verleiht. "Xanadu" ist erwachsenes Fernsehen für erwachsene Menschen, was in diesem Fall heißt, dass sie sich belügen und betrügen - aber ausnahmsweise mal, ohne dass ein Kommissar immer hinter ihnen herschnüffelt.

Narrative Scheuklappen

Denn das ist ja eine der tragikomischen Seiten der deutschen TV-Trauergeschichte: Der Mythos, dass ausgerechnet der "Tatort" die "große Ausnahme" sei; und die Tatsache, dass komplizierte soziale Realität fast ausschließlich über Morde, Polizei und Verdacht erzählt wird. Das bedeutet eine schleichende Kriminalisierung der gesellschaftlichen Reflexion, was im Grunde nichts anderes ist als eine verbürgerlichte Form der "Bild"-Dramaturgie. Das bringt nebenbei auch narrative Scheuklappen mit sich und führt dazu, dass die besten Schauspieler vor allem Stricher, Pädophile oder Leichen spielen müssen und einem die Regisseure, die man so trifft, vorjammern, dass sie überhaupt nur noch Krimis angeboten bekommen, in den Hauptrollen die ewig gleichen vier, fünf Frauen, die dem numinosen Schönheitsideal der Fernsehredakteure entsprechen.

"Xanadu" ist deshalb so eine angenehme Ausnahme, weil die Figuren abgründig sind, ohne auf irgendeine Pathologie festgelegt zu werden. Weil die Handlung klar und plausibel ist und doch so lose Enden hat wie das Leben selbst. Weil das Milieu nicht nur Dekoration ist, sondern selbst Gegenstand der Reflexion: Was bedeutet das Internet für die Porno-Industrie (in den USA ist übrigens gerade das Buch "A Billion Wicked Thoughts" von Ogi Ogas und Sai Gaddam erschienen, das beschreibt, wie Online-Porno den Sex verändert) - und was bedeutet dieser Wandel, der hier am Beispiel einer Familie erzählt wird, für die Gesellschaft insgesamt?

ZDFisierung der Verhältnisse

Es ist in dieser Serie eine Sinnlichkeit am Werk, die jeder deutschen Fernsehproduktion abgeht, was nichts mit dem Porno zu tun hat, fast im Gegenteil, sondern damit, dass die Bilder mehr wissen als die Figuren oder auch die Zuschauer. Dieses Fernsehen ist auf eine Art und Weise intelligent, die ganz von heute ist und all das, was wir sonst zu sehen bekommen, in den Rang der versuchten Körperverletzung rückt. Denn dass das deutsche Fernsehen so schlecht ist, ist längst kein ästhetisches oder intellektuelles Problem mehr, sondern eine gesellschaftliche Katastrophe, die einen fast physisch leiden lässt. Die Kombination von Verachtung und Feigheit, mit der die deutschen Fernsehmacher ihr Publikum betrachten, hat dabei durchaus politische Konsequenzen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen vertieft in seinem Fiktion-Bereich die gesellschaftliche Spaltung, die es in seinen Polit-Magazinen beklagt.

Es ist eine ZDFisierung der Verhältnisse, die das Land in Seher und Nichtseher teilt. Man könnte sich damit trösten, dass dieser Verdrängungsprozess ausnahmsweise die Bessergebildeten und Besserverdienenden betrifft. Aber "Xanadu" zeigt einem dann doch, was bei uns fehlt: Fernsehen ist im Grunde ein unglaublich fortschrittliches Medium.